Dienstag, 2. Oktober 2007

Mit Recht sich andere Texte aneignen:

"Mit Recht sich andere Texte aneignen: Heiner Müller zitiert Bertolt Brecht zu recht

Nils Plath (Universität Osnabrück)

Email: nplath@uni-osnabrueck.de


ABSTRACT:

Eine vielzitierte Legende –und selbst zur Redewendung geworden – ist jene „grundsätzliche Laxheit in Fragen geistigen Eigentums“, die Bertolt Brecht sich selbst anlässlich eines prominenten Urheberrechtsdisputs attestierte. Die Übernahme fremder Texte – ob in Form der Adaption, des Zitats oder als umgeformtes Quellenmaterial – gelten bekanntermaßen als charakteristischer Zug von Brechts Arbeitsweise, wie sie insbesondere in den Materialfügungen seiner Theaterstücke zu beobachten ist. Auch die Theaterarbeiten seines „Erben“, Heiner Müller, in späten Jahren als Leiter des Berliner Ensembles tatsächlich Brechts institutioneller Nachfolger, sind von einer selbstbewußt kritischen Aneignung und Umarbeitung so genannten Fremdmaterials gekennzeichnet. Eine Gegenüberstellung der dramatischen Werke der beiden Autoren Brecht und Müller unter dem Gesichtspunkt des copyrights, die als Beispiele eines „modellhaften“ und eines „postdramatischen“ Theaters“ schon oft miteinander verglichen und einander als unvereinbar gegenübergestellt wurden, kann die aktuelle Aufmerksamkeit für das Recht im literaturwissenschaftlichen Diskurs mit einer Darstellung von Brechts Arbeit in den Arbeiten eines Erben leisten. Eine urheberrechtliche Auseinandersetzung jüngeren Datums ist Anlass, in diesem Vortrag das Verhältnis zwischen Literatur und Recht zum Thema zu machen. Brechts Erben erwirkten vor einigen Jahren gegen die Veröffentlichung von „Germania 3. Am toten Mann“ eine einstweilige Verfügung, da in Heiner Müllers letzter Theaterarbeit neben vielen anderen Zitaten Textteile aus verschiedenen Stücken Brechts rechtswidrig verwendet worden seien. Motiviert war dieser Eingriffsversuch von der Intention, eine „gegen Brecht“ gerichtete Rezeption und Verwendung von Teilen seines Werkes zu unterbinden. Der Widerspruch der Müller Erben gegen dieses Verbot von Brecht-Passagen in einem Stück, das auch als Müllers letzter kritischer Kommentar am selbstentworfenen Bild Brechts als „großer Autorpersönlichkeit“ und zugleich der postumen Rezeption seines Werks durch das Berliner Ensemble zu verstehen ist, führte zu einem Rechtsstreit, der erst 2000 vor dem deutschen Bundesverfassungsgerichtshof entschieden wurde. Das Gericht erlaubte mit einem Hinweis auf die „Kunstfreiheit“ die Verwendung der in Müllers Drama eingearbeiteten Passagen aus Brechts Stücken schlußendlich als rechtens. Ausgehend von einer Skizze verschiedener Konzeptionen von „Aneignung“ und „Zitat“, die sich im Einflußbereich des deutschen Rechts seit dem 18. Jahrhundert ausbildeten und rechtlich kodifiziert wurden, soll dargestellt werden, wie sehr der literarische Text – und insbesondere dramatische Werke, wenn diese (wie die Brechts) auf eine bestimmte Montage- und Aneignungstechnik bauen – in seiner Rezeption immer von rechtlichen Fragen bestimmt wird. Denn Fragen nach der Autorität des Autors, nach Eigentumsrechten und Urheberechtsfragen sowie nach der Interpretationshoheit bestimmen jede Interpretation – und, wie im Falle Brechts nachweisbar, bereits die Produktionsweisen. Andererseits werden sie einer Rechtssprechung zur Herausforderung, die an ihnen – und das heißt: an ihrer Interpretation aus Sicht des Rechts – eine (fehlende) Selbstreflexivität gegenüber dem eigenen Status als Text(verfahren) beweist. Wie sich in einer detaillierten Lektüre der Rechtssprechungskommentare in diesem Fall – exemplarisch singulär und verallgemeinerbar zugleich – zeigen lässt, lassen sich bestimmte rhetorische Selbstdarstellung erkennen, die den literarischen Text (und damit ein ästhetisches Postulat, das ihm zugeschrieben, aus ihm herausgelesen wird) im Sinne einer aus sich heraus (auf den ästhetischen Gegenstand) verweisenden Selbstlegitimation des Rechtsdiskurses funktionalisieren. Der juristische Diskurs, so zeigen die einander auch kritisch kommentierenden Urteile in diesem Fall, sucht sich Voraussetzungen zur Autoritätssetzung außerhalb der eigenen Sprache, und verweist damit – gerade in der Auseinandersetzung mit so genannten Sprachkunstwerken, denen eine fragwürdige Autonomie zugesprochen wird – auf den eigenen prekären Setzungsanspruch, der sich stets über Interpretationen vermittelt."