Sonntag, 21. Januar 2007

bishonen


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Von den Kanälen herauf hörten wir das Wasser rauschen. Leslies fahrige Hände irritierten mich, und irgendwie ich kam mir vor, als probte ich für eine Rolle am Set. Vor allem aber vermutete ich Leslies Mund in Augenhöhe. Sie lachte lauthals. Ich mochte das, und unterdes sah ich die braunen Gefälligkeiten ihrer Augen. Sie spiegelten mich, erhoben keinen Anspruch auf Feedback, und wollten auch sonst nichts. Leslie zupfte an meinen Wimpern, wozu sie ihre Lippen nahm, und sagte, meine Aura hätte mehr Farben als „The Million Dollar Hotel„, you know, the movie from Wim Wenders. Seit sie mich zum ersten Mal geküsst hatte, war sie es, die Regieanweisungen gab. Genau so gut hätte sie einer Alligatorfarm als Direktorin vorstehen können, ich wäre zu allem bereit gewesen. Vor allem hatte ich ein Problem, so kurz vor dem großen Knall meinte ich plötzlich, mit allen Klartext reden zu müssen. Pah. Und es schien, als wäre bei allen dauerbesetzt. „Das war schon immer eine Schwäche von dir!„ höre ich dich spötteln. Und ich weiß, du hast Recht, ich stehe vor jeder neuen unnahbaren Frau als hätte jemand mich ausgesperrt. Dann gibt es da Tage, an denen ich dir zustimme, wir haben beide diesen Geruch von Levkojen in der Nase, es ist ein strenger Duft. So einer der mich sehr zurückgezogen sein lässt. So wie an diesen Sonntagen, an denen es morgens so langweilig ist, dass man ein paar Schritte von der Balkontür entfernt steht und nicht weiß, worauf man wartet. Romantiker atmen immer ein wenig tiefer ein und sehen dabei brav aus. Wenn ich so pathetisch wurde, ließ Leslie mich selten ausreden. Aber sie machte das wett mit ihrem aufgelösten Haar, dem halb geöffneten, gesteiften Hemd und der Tatsache, dass ich ihre linke Brust sehen konnte.

Verrückt: Mit Leslie fühlte ich mich, als risse mir jemand den Fahrradhelm vom Kopf, noch bevor ich überhaupt gestürzt war. Sie war wie jemand, der das Lebenselixier per Kanüle injizierte, und zwar ohne ihr Opfer zu fragen. Nach dem ersten Schock konnte ich ihre Gegenwart genießen.

Ein leichtes Befremdetsein blieb dennoch. Sie bereitet mir irgendwie Bauchschmerzen. Verwirrung ist schwer zu ertragen, besonders, wenn die Gefühle etwas mit den erotischen Spannungen zu tun haben. Und noch wusste ich keineswegs, woran ich mit ihr war. Später, wenn ich wider aller Vernunft zurück in Deutschland wäre, könnte ich Leslie einen Brief schreiben. Vielleicht könnte ich ihr etwas erklären von dem, was ich über sie dachte. Dass ich dabei englisch schreiben müsste, würde das kleinste Hindernis sein. Früher hatte ich im Hotel die Pornokanäle schnell genug gewechselt, so dass die Zahlsperre immer genügend Penis freigab und ich das befriedigende Gefühl hatte, etwas gesehen zu haben. Ohne dafür zahlen zu müssen...

Leslie trieb meine Verwirrung auf die Spitze, indem sie lächelte. Was immer sie mir beibringen wollte, ich sträubte ich mich dagegen. Vielleicht, weil sie so siegessicher war. Vielleicht, weil ich sie so sexy fand. Vielleicht stocherte ich deshalb so ziellos und desorientiert mit meiner Zunge in meinem schmerzenden Zahn und meinen Gefühlen herum wie ein Wünschelrutengänger. Ich kannte ein paar Tanzschritte, aber ich hatte überhaupt kein Rhythmusgefühl. Eine Nanosekunde dachte ich, all das war ein Fehler. Ich hätte in Hamburg bleiben und früh ins Bett gehen sollen. Es gibt Frauen, die luden einen zum Kaffee, und es gab Leslie. Sie schäumte Milch mit einem Quirl und servierte Cappuccino. Joe dozierte auf dem Flur, sie schwang den Zeigefinger. Thomas lachte befangen. Leslie ging zu einem wacklig aussehenden Schrank und schwenkte einen Bügel, an dem ein dunkelblauer Nadelstreifenanzug hing. Sie lächelte, wissend und irgendwie bevormundend: „This is for you!„ Als würde sie Karten verteilen.

„Ach hör doch auf„, hörte ich Joe lallen. Leslie schaute fragend. Ob sie je in einem Dorfsupermarkt was geklaut hat? Oder mit einem der Cheerleader im Mädchenumkleideraum Sex gehabt hatte? Keiner von uns hatte Lust, wieder hinaus zu gehen. Raus in das Gewimmel auf dem Markusplatz, raus zu den Menschen, denen das Millennium gerade jetzt wichtig sein würde. Manchmal dachte ich, der Gedanke an den Sex mit Außerirdischen hätte etwas mit meiner Weltuntergangsstimmung zu tun. Deshalb wunderte es mich nicht, als ich in Leslie plötzlich die Gestalt eines Engels zu erkennen glaubte. Das Schicksal und die Unschuld waren meine beiden Worte des Jahrhunderts, danach fragten die Institute nie. Die Portiersfrau kam angerauscht, zerdrückte Hochfrisur, furchterregendes Lachen. Unablässig sprudelte sie Italienisches auf uns herab, dabei war sie höchstens einsachtundsechzig. Joe starrte sie an. „Sie sagt, wir sollen losgehen, bevor wir das Beste verpassen!„ übersetzte sie schlafwandlerissch. Wir gehorchten tatsächlich. Eine Stunde später, als der Schock ein wenig abgeklungen war, konnten wir beobachten, wie zwei Sanitäter sich verzweifelt kämpfend den Weg durch die Masse bahnten. Hinter ihnen eine schrie eine Frau, sie fuchtelte mit den Armen, und wirbelte eine leere Flasche Champagner wie ei n Kriegsbeil. Die Umstehenden duckten sich. Joe witzelte mit den beiden Schwulen hinter uns: „Soll sie doch froh sein, dass sie ihn los ist„, weihte uns Joe lachend in die Unterhaltung ein. Das seltsame Gespann zog schubsend und drängelnd an uns vorüber. Und dann begannen sie auf dem Kanal mit dem Feuerwerk. Atemberaubend!

Die Menge verstummte, als sei jemand mit einer riesigen Peitsche dazwischengefahren. Rot, Grün, Blau, alle nur vorstellbaren Kombinationen aus Lichtsträußen, Fontänen und Herzen machten uns zu Kindern. Ah und Oh raunten die Kehlen und ab und an spiegelten Flaschen, die an Lippen gehoben wurden, die Reflexe des Himmels. Für einen Moment glitten meine Gedanken um den Erdball, ich dachte an all die Verrückten, die in Jets hin- und herdüsten, das Millennium mehrmals begießen zu können, an die Menschen, denen unser Jahreswechsel gar nichts bedeutete, weil sie nach anderen Kalendern lebten, an dich, wo immer du gewesen sein magst, an Tara, ja, an Tara dachte ich auch. Leider.

Denn plötzlich stand sie vor mir. Junges Licht. Oder wie soll ich das nennen, wenn ich glauben muss, dass alles um uns leuchtet?

Ich hätte gern gelassen reagiert, aber nach sechs Jahren, in denen ich sie weder gesehen und auch nur einmal am Telefon hatte sprechen hören, war das ausgeschlossen. Mein linkes Bein begann zu schlottern. Auch für jemanden wie mich, die ich inbrünstig an Reinkarnation, Kraft durch Gedanken und dergleichen glaubte, war das kein Moment, der aus mir eine routinierte Expertin machte, die nur einen Beweis für ihre Theorien gefunden hatte.

Tara, wie immer, vom Nacken bis zur Hälfte des Kopfes kurzrasiert, darüber blond und streng zurückgegeelt, sie konnte nicht anders, als mich anzugrinsen. Leslie wandte sich ab. Strafte mich mit Ignoranz, offenbar hatte ich mit meiner Reaktion auf Tara ein Tabu gebrochen. Leslie und ich hatten noch keine Gelegenheit, über Liebhaberinnen, One-Night-Stands oder gar über Tara zu sprechen. Was hätte ich ihr erklären können?

Thomas bot uns an, nachzugießen. Wir prosteten uns zu. Thomas sah mich beim Einschenken ragend, zweifelnd und irgendwie amüsiert an, während er Joe hielt, die Mühe hatte, ihren Champagner nicht aufs Pflaster zu kippen. Leslie schaute demonstrativ in den Himmel. Mir wurde flau im Magen, sosehr sehnte ich mich danach, Tara möge die Konventionen und die vergangenen sechs Jahre in den Kanal werfen. Konnte die mich nicht küssen, ich wusste doch ohnehin, wie ihre Lippen schmeckten. Ich hätte schwören können, dass sie nach weißer Schokolade schmecken und mich beißen würde. Noch sehnlicher wünschte ich mir, mit ihr erwischt zu werden. Mittendrin. Von Leslie. Gott, bist du grausam. Ja, ich weiß, manche naschen nachts heimlich Milkyway, ich träumte. Und trank mehr Champagner.

In meinem letzten Jahr in Bremen kam Tara ins Gerede. Was man sich über sie erzählte, war nicht wirklich neu - abgedroschener Lesbentratsch, aber das Geschwätz war vermischt mit etwas Unvorhersagbarem, Interessantem, etwas, das mir rote Ohren machte. Die eigentliche Attraktion aber war, dass Tara all das für sich ausgenutzt hatte. Sie liebte Tratsch, vor allem, wenn es um sie ging. Egal, welcher Art die dazugehörigen Kommentare waren.

Sie verblüffte mich. Trank ihr Glas leer und sagte, sie müsse weiter.

Perfektionistin, die sie war, gab Tara mir die Hand und zog mich heran. Der Kuss schmeckte nach Schnecken. Danach wählte sie ihre Geschwindigkeit.

Die Jahre, mein Leben und der Rest gingen dahin, ich wurde abgeklärter aber vor allem hörte ich auf, mich zu bemitleiden. Ich schaute mich um.

Definitiv war Tara nicht da. In den wenigen Jahren, seitdem wir gar nicht sprachen, waren sexy, aber jüdisch. Sie waren irgendwie unwirklich.

Tara aber reagierte allergisch, sowohl auf mich, als auch auf meine Vermutungen. Macht es dich nie kaputt, wenn jemand dich anruft und Spielchen mit dir spielt? Es tut weh, weil es nicht das erste Mal war.

Wenn nachts diese Filme liefen, auf arte, dann war ich immer auf Seiten der Verliebten. Nachdem Tara sich das dritte Mal von mir getrennt hatte, bemerkte ich plötzlich ein gewisses Verständnis für die Ehepartner, die Verlassenen, Betrogenen. Die treuen Seelen eben. Wie die zu Hause saßen, litten und jede Verabredung unter fadenscheinigen Vorwänden platzen ließen.

In den ersten zwei Monaten, nachdem ich Tara getroffen hatte, war ich hypnotisiert von dem gespenstischen Zusammentreffen. Gwenyfar, die treue Gefährtin von König Artus, träumte. Jemand wollte sie warnen. „Wenn du noch so stark bist„, sagte die Stimme „Tara wird stärker sein„. So genau, wie Träume sein können, wusste ich, ich war die Frau von Arthurs. Aber wer war Tara? Wir müssen Kinder sein, damit wir wissen, wie es ist, ein Kind zu sein. Und ich musste von Tara träumen, damit ich vorbereitet war, wenn ich sie wiedertraf. Wenn ich nicht mehr die Frau eines Königs und sie mir ebenbürtig war.

Tara erkannte mich wieder, aber es erschien mir irgendwie halbherzig. Und ich gestehe, dass ich leicht eingeschnappt war. „Du bist schön.„ So, wie sie das sagte, hätte ich zweifeln sollen. An ihren Beweggründen, an der Art unserer Begegnung.

Eines Tages meinte Tara, an ihrer Aussprache arbeiten zu müssen, sie sagte „schleifen„, vor allem an den Vokalen. Kein Vorstadtslang mehr.

Immerhin trug sie weiterhin ausgefranste Hemdkragen. Zu heiß gebügelt oder zu oft gewaschen.

In Gedanken wiederholte ich mehrmals, dass sie mich gefragt hatte, ob wir nachher noch einmal tanzen würden. Jajaja. Natürlich.

Wir waren auf der Jagd, und es in dieser Nacht war es besonders dunkel.

Oder wie erklärt man besondere Umstände, wenn man sieht, wie etwas geschieht, das nicht verhindern kann und absolut nicht weiß, weshalb nicht?

Beim ersten Mal holte sie mich nah heran, nur, um mich beim zweiten Mal schroff abzuweisen. Ein lang gehegter Wunsch ging endlich in Erfüllung aber meiner Erfahrung nach, war es für uns zu spät, wir hatten den Genuss mit einem unserer unzähligen Abschiede in den Rinnstein gekippt.

Das Feuerwerk gab genug her, um mir einen fahlen Eindruck ihrer Haut zu vermitteln. Tara tupfte über ihre Lider, das ergab einen hübschen Effekt. Ich verwinkelte meine Arme vor der Brust, betrachtete sie und riskierte einen kleinen Gedanken, der es wagte, meine Hand auf ihre Hüfte zu pressen.

Alles, woran ich mich erinnerte, waren Küsse, Berührungen, zerrissene Klamotten. Und, wie wir uns die ganze Nacht gehalten hatten. Was konnte ich tun, zumal ich eine schlechte Lügnerin bin. Draußen war es kalt und schon fast hell, wir wussten nicht, wie weit es bis zum Hotel sein würde.

Deshalb einigten wir uns auf die Lottovariante. Joe würde, weil sie am meisten betrunken und am wenigstens kontrolliert war, sie würde das Los ziehen. Thomas faltete drei Zettel, und ich ersparte ihm mein spöttisches „akribisch„. Hätte es ohnehin nur gesagt, weil Tara mich dermaßen durcheinander gebracht hatte. Leslie rauchte. Und schwieg. Verständlicherweise.

Im Urlaub kommt es nicht darauf an, wie die Nacht endet, es ist einzig und allein wichtig, wie sie begann. „Ahmm, yes„, hatte Leslie mich wissen lassen. Natürlich, sie würde mehr als nur meine Küsse erwidern. Wie kam ich dazu, Sachen zu sagen wie: „I would comfort you„? Lag es daran, dass sie missverstünde, was ich sonst noch zu sagen hätte?

Schlafen kann man überall. Zur Not auch auf dem Schaufenstersims eines Lederwarengeschäfts. Aber, obwohl ich todmüde war, Leslie wollte ihre Augen noch nicht mal beim Küssen ihre Augen schließen. Schon gar nicht, seitdem Tara mit einem Augenzwinkern gegangen war.

Die Kopfkissen in den venezianischen Hotels sind fast immer zu dünn, die Decke nicht ernst zu nehmen, und wir hätten auch nicht gewusst, in welchem Rhythmus wir uns umzudrehen hatten. Ob Tara sich auch daran erinnerte, dass wir uns dreieinhalb Monate lang jede Nacht im gleichen Rhythmus umgedreht und wieder umarmt hatten.

Ein Hotel ist nur gut, wenn man es auch tagsüber nicht verlassen mag. Wir mieden unser Nachtquartier. Und Leslie nahm mir das übel. Heute kann ich ihre Wut verstehen. Damals hatte ich nur ein arrogantes Schulterzucken für sie übrig. Doch improvisieren wir mal, spaßeshalber. Was macht den Charme aus einer guten Beziehung aus? Rette ich Leslie mit Geständnissen vor den Tagen und Nächten, in denen sie sich an meine Sätze, den Tonfall erinnern und mich dafür verfluchen wird? Unsere Verbindung begann mit der Flüchtigkeit eines Blicks, sie wird auch so enden.

Unten piepste die Kaffeemaschine. Ich wünschte, jetzt sofort ein frisches Hemd aus dem Schrank nehmen zu können, aber in dieser Nacht bin ich irgendwie uferlos, wie alle und alles um mich herum. Die Gegenwart und ihre Zustände sind mir weniger klar als die Erinnerung an meine Jugend, die doch schon Jahre zurückliegt. Ein Phänomen, das einem keiner recht erklären kann. Was solls.

Die Nacht schnappte mit kaltem Atem nach uns, ich ballte meine Fäuste, um die abgestorbenen Finger wieder zu beleben. Joe versuchte, ihre Zigarre anzuzünden. Ihre dritte. Nichts war von der Feierlichkeit geblieben. So etwas hatte ich schon so oft erlebt. „Something, something is the key....„ Ich sang Leslie behutsam ins Ohr, aber sie drehte sich abrupt weg. Obwohl sie leicht hysterisch wurde, weil das Feuerzeug nicht gleich brennen wollte, stellte Thomas sich schützend neben Joe und hielt ihre zitternden Hände still. Ich hätte meinen Neid nicht leugnen können.

"Zeit kann einem Angst einflößen, besonders, wenn man versucht, etwas festzuhalten, das man nicht halten kann." Das hatte Thomas mir nachmittags aus einem Interview mit Nastassja Kinski vorgelesen. Weil es ihn beeindruckt hatte. Ich fand, das einzig Interessante daran war die Tatsache, dass Kinski seit 20 Jahren als Kindfrau gehandelt wurde, selbst nach ihrem 40. Geburtstag. Thomas vermutete Angst vor dem Altern. Ich widersprach nicht.

ZURÜCK ZU ZWEI

Trotz unserer windigen finanziellen Verhältnisse wäre es meiner Freundin Joe niemals zuzumuten gewesen, in ein normales Vaporetto zu steigen wie eine normale Touristin. Ohne Diskussion willigte ich ein, eine Gondel zu nehmen und protestierte erst, als wir, statt im Azienda di Promozione Turistica nach einer Unterkunft zu fragen, hielten, um ausgerechnet am Ca' Dario, dem windschiefen, aber vor allem verfluchten Marmorpalast auszusteigen. Ohne auf meine Proteste einzugehen, erwartete Joe, wenn ich sie nicht bereits nach der Ankunft zu verlieren gedachte, dass ich ihr bedingungslos folgte und so landete ich schließlich mit ihr direkt in einer Abstellkammer der berühmten Holzschnitzerwerkstatt in der Sotoportego Corte Rota. Um meine Verwirrung zu komplettieren, gab der Werkstattbesitzer Paolo Brandolisio uns das Quartier für ein unglaublich günstiges Tagegeld. Joe wickelte die Formalitäten in unserem gemeinsamen Ansinnen ab, ihre Italienischkenntnisse wusste ich ohnehin nicht zu übertreffen und ich legte keinen Wert darauf, ihre Vertraulichkeiten mit den Venezianern zu unterbrechen, die mit Sicherheit finanzielle Vorteile für uns beide nach sich zögen.

An diesem und auch den beiden darauffolgenden Abenden wiegte ich mich in dem Aberwitz, den man vielleicht ehrlichkeitshalber Wahn nennen sollte, dass wir Marcellos besondere Zuneigung und Obhut allein Joes extravaganter kanariengelber Handtasche verdankten. Und in gewisser Weise stimmte das ja auch. Als fliegender Händler mit einem monströsen Bauchladen unterwegs, war Marcello auf Joe zugeschossen, als seien wir die ersten greifbaren Opfer, mit deren Abschuss er endlich den Score seines inneren Spiels in die Höhe treiben konnte.

„Aleph, Beth, Gimmel, Daleth, He, Waw! Ist es, was ich denke, dass was Sie so gedankenlos spazieren tragen?„ Der Taubenfutterverkäufer mit dem Ramschladen am Bauch sprach ein überaus präzise artikuliertes Deutsch, die militärisch tonierten Fremdbegriffe ausgenommen, und zwar bar jeden Akzents. Als er mit seinem fetten, beringten Daumen auf Joes Handtasche deutete und noch einmal aufjaulte: „SAJIIN!„, war mir zum ersten Mal aufgefallen, das, was ich für grell-gefärbte und imitierte Kroko-Maserung gehalten hatte, eine komplizierte, in sich verschlungene Abfolge sich wiederholender und wie ich heute weiß, hebräischer Zeichen darstellte. Gerade, als ich ihr den zudringlichen Kerl vom Hals schaffen und um Hilfe rufen wollte, brach Joe in ein hysterisches Lachen aus und mir fast den Finger, an dem sie mich zurück hielt. Noch mehr verblüffte sie mich, in dem sie mit dem kleinen Finger ihrer freien, der linken Hand eine Art Segensgeste über dem kahlen, rosengeschmückten Schädel des Mannes vollführte. Fassungslos starrte ich auf die unwirkliche Szene.

„Kennst du ihn etwa?„ Eine Zigarette, die sie Marcello aus seinem Bauchladenrepertoire stibitzt hatte, zwischen den Lippen balancierend, antwortete sie schnippisch: „Man muss nicht jeden kennen, um ihn zu erkennen.„ Sie können sich ja denken, auf welcher Silbe die Betonung lag.

„Marcello,„ schaltete der Dicke sich ein, und schien mich beruhigen zu wollen, indem er mir seine fleischige Hand über den Bauchladen hinweg entgegen streckte.

„Zum Teufel, kann mir jemand erklären, was hier gespielt wird?„ Joe hatte mich beschwichtigt, Marcello uns ins „La Strada„ geschleppt. In meinem Caesar-Salad herumstochernd, hatte meine Freundin Joe mir eine Geschichte zugeraunt, die ich anfangs noch als einen ersponnenen Mix aus ihren geliebten „Drei-Fragezeichen-Hörspielen, etwas „Warten auf Godot„ und vielleicht einem Schuss Umberto Eco zu entwirren suchte. Doch gab ich dieses Unterfangen ein paar Stunden später auf, wir waren dank Marcellos Hilfe ziemlich angetrunken und bei Kate Moss gelandet, die auf den Obsession-Anzeigen gar nicht Kate Moss war, sondern Joe. Meine Freundin, gebürtig in Husum und Scheidungskind, wollte mir weismachen, sie habe Kontakte zu einer Art kabbala-orientiertem Rosenkreutzerorden. Ja, mehr noch, sie sei eine der auserwählten Priesterinnen. Geniale Idee, hatte ich gedacht, als ich erfuhr, dass sie in den Obsession-Werbekampagnen ihre Kontaktmitteilungen versteckten. Weltweit, kostenlos. Mal ehrlich, hätten sie ihr nicht auch geglaubt, und sei es auch nur, um der lieben Ordnung Willen? Ich meine, eine begabte, meinetwegen auch etwas spinnerte Freundin zu haben, ist eine Sache, aber mit ihr nach Venedig zu reisen und dank einer etwas grellen Handtasche plötzlich feststellen zu müssen, dass sie mit jemandem unterwegs sind, den Donna Leon sich für ihre langweiligen Venedig-Krimis nur hätte wünschen können, eine andere.

ZWEIDREIVIERTEL

Ich weiß nicht, wie es Ihnen mit Anne Clark geht, aber auf mich wirkt diese Art Musik hypnotisch als hätte man mich verdammt, die Nacht Auge in Auge mit einer Schlange zu verbringen. Wenn Sie mir bisher folgen konnten, sind wir schon weit gekommen, jetzt heißt es: standhalten. „Love is just a Paradox„ - der Song von Anne Clark war uralt und wirksam wie alle zeitlosen Beschwörungen: „Love is just a Paradox..„. Der einfache Refrain hallte uns lange nach, nachdem ich mich ungläubig an Joe klammernd, der ich trotz allem vertrauen wollte, Marcello die ausgetretenen Marmorstufen hinab in den Weinkeller gefolgt. Sein Vater sei unser Kontaktmann, er arbeitete als Sicherheitsbeamter im Vatikan, deshalb habe er ihn, Marcello nach zwanzig Jahren aus dem französischen Kloster kommen lassen und ihm das „La Strada„ überschrieben. Ich weiß noch, dass mein Geist sich weigerte, dem Ganzen weiterhin zu folgen, zu prüfen, ob irgendetwas noch logisch sein könnte, und dass ich inständig glauben wollte, die Beiden erlaubten sich einen Scherz. Noch inbrünstiger quälte ich mich mit der Frage, welche Konsequenzen mich, da sie mich so bedenkenlos einweihten, erwarteten. Würden sie mich einmauern? Mich durch eine Falltür in einen der Kanäle stürzen? Im Grunde war es zu spät, sich darüber Sorgen zu machen, also trank ich weiter mit ihnen den Wein, von dem ich annahm, dass er ohnehin vergiftet war und mich früher oder später von der Bürde meines plötzlichen Wissens befreite. Je länger wir dort unten auf den modrigen Fässern hockten, umgeben vom Flackern der mannshohen Kerzen, die Marcello hingebungsvoll angezündet und uns dann auf eine verspiegelte Wand aufmerksam gemacht hatte, desto weniger fühlte ich mich jedoch bedroht. Vielleicht, weil Joes Geschichte sich so unwahrscheinlich und nahtlos in das einfügte, was der dicke Venezianer uns dort unten offenbarte.

Vor dem Geschmack steht der Geruch. Vor der Realität die Phantasie. Marcello bat uns, die Schuhe auszuziehen und ihm durch die Spiegeltür zu folgen. Natürlich erwartete ich mindestens eine Folterkammer. Läufer C2 schlägt Bauer B5, hörte ich eine seltsam vertraute Stimme. Bauer C3 schlägt D4. Oh nein, das klang nach Verlusten. Weil es heiß, dunkel und eng war, verzichtete ich darauf, mich unnötig intensiv auf das imaginäre schwarzweiße Brett zu konzentrieren. Zumal ich ohnehin fürchten musste, der Angriff auf den weißen König sei nur inszeniert, mich abzulenken von dem, was mich in Wirklichkeit empfing. Dame auf B7und ich fühlte mich schachmatt. Oder: wenn Ihnen das geläufiger ist, als zwänge jemand mich, in einem Billigkaufhaus Badeanzüge anzuprobieren. Geschockt, weil Joe mich vor einen fünfflügeligen Kabinenspiegel geleitete und mich ebenso wie sich selbst entkleidete, harrte ich verstummt aus. Ich weiß, sie denken, als würden sie einem Film zuschauen, sie an meiner Stelle hätten geschrieen, wären weggelaufen, aber glauben sie mir, man tut nichts von all dem. Man ist hypnotisiert. Sie küsste mich, ganz selbstverständlich, so als sei ich ein eisgekühlter Fremdkörper und als müsste mein Körper von den Schultern abwärts aufgetaut werden. Wissen sie, ich habe früher habe ich Aktmodell gejobbt. Dabei war ich mir vorgekommen wie eine Herrin der Adler, die als Falknerin vertrauensvoll mit allen Greifvögeln umgegangen war. In einer Ruine rekelte ich mich völlig unbekleidet, aber mit zu wenig Sprachen ausgestattet, und nicht besonders schamvoll vor vier bis fünf sehr ernsten Kunstschülern, auf einem klapprigen Sofa, vor dem sie mir einen kleinen Heizlüfter aufgebaut hatten. Wegen der absurden Temperaturen in dem eisigen Kellerloch war ich eher damit beschäftigt, so nah an den rotierenden Heizkörper heranzurücken, nur, um dann im letzten Moment meine, fast schon glühenden Füße oder Unterschenkel zu retten. So ungefähr fühlte ich mich unter Joes Küssen auch, doch blieb ich verdammt regungslos, ja willenlos stehen vor diesem Spiegel, in dem ich mir begegnete wie ein Hautarzt einer Krebspatientin; plötzlich hatte ich den Focus und tastete meine Haut, meinen Körper mit fremden Augen ab. Das Kreuz für die Röntgenstrahlung imaginierte sich in Herzhöhe: ich verstand plötzlich mehr, als ich Ihnen erklären können, Sie wissen schon, so wie man nur in Todesnähe klar sieht, das alles nur aus dem freien Spiel des Geistes entsteht. Und: was niemand hören will, so lange er nicht selbst der Sterblichkeit begegnete. Bewusst. Das ist eigentlich das einzige, was uns voneinander unterscheidet: Bewusstheit.

Und wissen sie was, man läuft in einem solchen Moment nicht weg, weil man Angst hat, das Wichtigste zu verpassen. Und darüber hinaus ist man eigentlich immer auf der Suche nach dem Kreis, dem man angehören möchte, der einen etwas Besonderes sein lässt.

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